Herman G. van de Werfhorst, Emma Kessenich und Sara Geven.

Dieser Blog wurde von Laura Zieger ins Deutsche übersetzt.

Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Krise hat den Bildungsprozess von Millionen von Kindern durcheinandergebracht. Fernunterricht über Online-Kommunikationskanäle ist seit März 2020 in vielen Gesellschaften zur Praxis geworden (UNESCO 2020[1]). Während Schulen in vielen Gesellschaften langsam wieder öffnen, und obwohl die Schulen und Lehrer große Anstrengungen unternehmen um mit den unmittelbaren Veränderungen des Lebens umzugehen, ist es wahrscheinlich, dass die Corona-Krise den Bildungsprozess noch einige Zeit lang beeinträchtigt.

Welche Kinder sind gut auf digitales Lernen und Online-Unterricht vorbereitet?

Eine Frage, die sich sofort stellt, ist, wie sich die Schulschließungen auf soziodemographische Ungleichheiten im Bildungsfortschritt auswirken werden. Damit Fernunterricht funktionieren kann, braucht es einen guten Lernplatz mit digitaler Ausrüstung, ausreichende digitale Erfahrung und Fähigkeiten, engagierte Eltern sowie gut vorbereitete Schulen und Lehrer – und diese Rahmenbedingungen sind wahrscheinlich sozial stratifiziert. Obwohl wir noch nicht wissen können, wie sich die Corona-Pandemie auf Ungleichheiten in den Bildungsergebnissen auswirken wird, können wir jetzt schon die bereits bestehenden ungleiche Vorbereitung der Kinder auf diesen unmittelbaren Wechsel zu Online-Unterricht untersuchen. Wer hat bereits Erfahrungen mit digitalem Lernen gemacht, wer nicht? Welche digitalen Ressourcen haben Kinder, welche fehlen ihnen? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann in künftige Untersuchung der Bildungsungleichheiten, die aus der Pandemie folgen, einfließen, aber auch in Maßnahmen der politischen Entscheidungsträger, die den Übergang zur (und von der) Online-Bildung erleichtern sollen.

Wie ist die Situation kurz vor der Pandemie?

Um abzuschätzen, inwieweit Schülerinnen und Schüler auf Online-Unterricht vorbereitet sind und ob dies hinsichtlich ihres soziodemografischen Hintergrunds (sozioökonomische Herkunft, Migrationshintergrund, Geschlecht) variiert, analysieren wir Daten von Schülerinnen und Schüler, Schulen sowie Lehrerinnen und Lehrer, die im Jahr 2018 im Rahmen zweier internationaler Studien erhoben wurden, der OECD-Lehrerstudie TALIS (Teaching and Learning International Survey)[2] und der Schulleistungsstudie zu Computer- und informationsbezogenen Kompetenzen ICILS (International Computer and Information Literacy Study)[3]. Wichtig ist, dass wir sowohl die individuelle Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, mit Online-Unterricht zurecht zu kommen, als auch die Maß an Vorbereitung ihrer Schule berücksichtigen. Beide sind notwendig: Wie gut der Übergang zum Online-Unterricht für einen Schüler funktioniert, hängt nicht nur von dem persönlichen Zugang zu sowie den Erfahrungen und Fähigkeiten hinsichtlich Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ab, sondern auch von denen der zugehörigen Schule und Lehrer. So kann eine „digitale Kluft“ beim Online-Unterricht sowohl durch Ungleichheiten bei den individuellen IKT-Ressourcen der Schülerinnen und Schüler als auch durch Ungleichheiten in den IKT-Angeboten der Schulen, die sie besuchen, entstehen.

Schulen sind unterschiedlich auf das Online-Lernen vorbereitet

Betrachtet man zunächst die digitalen Ressourcen der Schulen, die die Schülerinnen und Schüler besuchen – d.h. Lehrerinnen und Lehrer, die gut ausgebildet sind und Erfahrung mit IKT haben – wird deutlich, dass es erhebliche Unterschiede in der digitalen Vorbereitung der Schulen gibt. Diese Unterschiede hängen jedoch nicht mit dem sozioökonomischen[4] Hintergrund und dem Migrationshintergrund[5] der Schülerpopulation zusammen. Beispielsweise in den Niederlanden sind die IKT-Kompetenzen der Lehrer an einigen Schulen erheblich höher als die der Lehrer an anderen Schulen. Diese Unterschiede zwischen den Schulen sind in Abbildung 1 dargestellt. Interessanterweise unterscheiden sich die Schulen darin, inwieweit die Lehrer vor kurzem an einer IKT-bezogenen beruflichen Weiterbildungsmaßnahme teilgenommen haben, wie oft die Lehrer die Schüler IKT für Klassenarbeiten nutzen lassen und inwieweit die Lehrer IKT zur Unterstützung des Lernens der Schüler einsetzen. Im Gegensatz dazu gibt es kaum Unterschiede zwischen den Schulen in Bezug darauf, wie gut die Lehrer während ihrer Erstausbildung in IKT ausgebildet wurden. Die Schulen in den Niederlanden unterscheiden sich daher vor allem darin, inwieweit die Lehrer ihre IKT-Fähigkeiten kontinuierlich weiterbilden und im Unterricht einsetzen. Ob Lehrer dies tun, ist jedoch unabhängig von dem sozioökonomischen Hintergrund und dem Migrationshintergrund der Schüler. Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, sind Lehrkräfte an Schulen mit mehr als 60% der Schülerinnen und Schüler mit benachteiligtem sozioökonomischem Hintergrund oder Migrationshintergrund in der Regel weder signifikant mehr noch weniger dem Digitalen zu geneigt als Lehrkräfte an Schulen ohne benachteiligte Schülerinnen und Schüler. Vergleicht man die Verteilung der digitalen Kompetenzen der Lehrer international, so zeigen sich in den Niederlanden relativ große Unterschiede zwischen den Schulen hinsichtlich der digitalen Eignung von Lehrern. Wir beobachten aber auch in anderen Ländern, dass sich ähnlich wie in den Niederlanden die Unterschiede zwischen den Schulen kaum durch den soziodemografischen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler erklären lassen.

Die Bedeutung des sozioökonomischen Status und des Migrationshintergrunds der Schüler

Die Tatsache, dass die soziodemografische Zusammensetzung der Schülerschaft nichts mit den digitalen Ressourcen der Schulen zu tun hat, bedeutet jedoch nicht, dass die Befähigung eines Schülers zur Online-Unterricht nicht sozial stratifiziert ist. Beispielsweise ist die Situation in Dänemark insofern der in den Niederlanden vergleichbar, dass die IKT-Kompetenzen der Lehrer eines Schülers nicht vom sozialen Status des Schülers abhängen (siehe Abbildung 3). Ebenso ist die IKT-Infrastruktur (d.h. Technologie- und Softwareressourcen), über die die Schule eines Schülers verfügt, nicht vom soziodemographischen Hintergrund des Schülers abhängig. Im Gegensatz dazu hängen die persönlichen Fähigkeiten eines Schülers, IKT effektiv zu nutzen, sehr stark von dessen Hintergrund ab: Kinder aus einem begünstigten sozioökonomischen Hintergrund sind digital besser qualifiziert als Kinder aus einem benachteiligten sozioökonomischen Hintergrund[6], Schüler ohne Migrationshintergrund sind besser qualifiziert als Schüler mit Migrationshintergrund[7] und Mädchen sind besser qualifiziert als Jungen (siehe Abbildung 4). Obwohl die digitale Kluft in Bezug auf die digitalen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler in Dänemark beträchtlich ist, ist sie im internationalen Vergleich sogar relativ klein. Beispielsweise ist die klassenbasierte digitale Kluft in Chile viel größer, und innerhalb Westeuropas ist die klassen-, migrations- und geschlechtsspezifische digitale Kluft in Frankreich wesentlich größer als in Dänemark.

Sowohl Hintergrund der Schule als auch des Schülers ist wichtig

Abschließend stellen wir fest, dass die Schülerinnen und Schüler ungleich auf digitales Lernen und Online-Unterricht vorbereitet sind und dass sowohl die persönlichen IKT-Ressourcen als auch die der Schule zu dieser Ungleichheit beitragen. Einige Schülerinnen und Schüler haben als Einzelpersonen mehr Erfahrung mit IKT und sind im Umgang mit IKT besser ausgebildet als andere, und einige Schülerinnen und Schüler gehen zur Schulen und werden von Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet, die mehr Erfahrung mit IKT haben und im Umgang mit IKT besser ausgebildet sind als die Schulen und Lehrer anderer. Es gibt also eine digitale Kluft, die beim Online-Unterricht zutage tritt und die sowohl auf individueller als auch auf schulischer Ebene besteht. Nichtsdestotrotz gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Ebenen: Während die persönliche digitale Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler nach Klasse, Migrationshintergrund und Geschlecht stratifiziert ist, unterscheiden sich die digitalen Ressourcen der Schulen nicht entlang dieser „klassischen“ soziodemografischen Linien. Dies impliziert, dass die persönliche digitale Befähigung der Schülerinnen und Schüler unabhängig von der digitalen Ausstattung ihrer Schule ist. Zwei Schüler mit gleichem sozialem Status verfügen wahrscheinlich über gleich entwickelte digitale Fertigkeiten, aber wenn sie nicht auf dieselbe Schule gehen, könnten sie dennoch ungleich auf digitales Lernen vorbereitet sein. Umgekehrt haben zwei Schüler, die auf dieselbe Schule gehen, wahrscheinlich gleich digital kompetente Lehrer, aber wenn sie aus unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen kommen, können sie dennoch unterschiedlich mit den Schulschließungen zurechtkommen. Um Chancengleichheit in Zeiten des Online-Unterrichts zu fördern, müssen daher sowohl die individuellen digitalen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler als auch die digitalen Ressourcen deren Schulen und Lehrerinnen und Lehrer sorgfältig – und unabhängig voneinander – berücksichtigt werden.

This blog summarizes the results of:

Van de Werfhorst, Herman G., Kessenich, Emma, & Geven, Sara. (2020). The Digital Divide in Online Education. Inequality in Digital Preparedness of Students and Schools before the Start of the COVID-19 Pandemic [Preprint]. SocArXiv. https://doi.org/10.31235/osf.io/58d6p

Research for this project was made possible through a grant from ZonMW, grant 10430032010003


[1] https://en.unesco.org/covid19/educationresponse, aufgerufen am 11. Mai 2020.

[2] Wir verwenden die niederländischen Daten der Lehrer und Schulleiter der TALIS-Studie. Darüber hinaus untersuchen wir in dem Artikel, das diesem Blog zugrunde liegt (van de Werfhorst, Kessenich & Geven, 2020), 44 weitere Länder, die über alle Kontinente verteilt und so unterschiedlich wie Schweden, Saudi-Arabien, Kolumbien und Vietnam sind.

[3] Wir verwenden Daten von Schülern, Schulleitern und ICT-Koordinatoren in den Schulen der ICILS-Studie für drei Länder: Chile, Dänemark und Frankreich. In dem Artikel, der diesem Blogbeitrag zugrunde liegt (van de Werfhorst, Kessenich & Geven, 2020), untersuchen wir darüber hinaus die Situation in Finnland, Deutschland, Italien und Südkorea.

[4] Der Prozentsatz an Schülerinnen und Schüler aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen beruht auf der Schätzung des jeweiligen Schulleiters über den Anteil an Schülerinnen und Schüler, denen es an „lebensnotwendigen Gütern oder Vorteilen im Leben“ mangelt.

[5] Der Anteil an Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund basiert auf der Schätzung des jeweiligen Schulleiters über den Anteil an Schülerinnen und Schüler, die entweder selbst oder deren Eltern im Ausland geboren wurden.

[6] Der sozioökonomische Hintergrund eines Schülers bzw. einer Schülerin wird anhand seiner bzw. ihrer Punktzahl auf der Grundlage eines zusammenfassenden Index (NISB) des elterlichen Berufsstatus, des elterlichen Bildungsniveaus und der Anzahl der zu Hause vorhandenen Bücher ermittelt. Die relative sozioökonomische Position der Schülerinnen und Schüler wird auf der Grundlage des Quartils innerhalb des Landes, in dem sie sich befinden, bestimmt.

[7] Ein Schüler bzw. eine Schülerin besitzt einen Migrationshintergrund, wenn der Schüler bzw. die Schülerin und/oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde.

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